Berlin-Kreuzberg, Hallesches Tor. An diesem zugigen Ort, den man dank guter Anbindung an Bus- und Bahnlinien schnell aufsuchen und wieder verlassen kann, ist eigentlich ein in grellen Farben werbender Möbel-Discounter für Schnäppchen zuständig.


Doch auch wer im November vergangenen Jahres am Waterloo-Ufer die unauffällig wirkende ehemalige Trinkhalle gegenüber der Bushaltestelle besuchte, die heute Haus 1 heißt, konnte ein gutes Geschäft machen: Die dort ausgestellten minimalistisch-abstrakten Werke des britischen Künstlers Tim Beeby waren im Rahmen der Ausstellung "Unsigned Untitled Undated" in zwei Preiskategorien zu erwerben. Signierte und datierte Arbeiten aus der Serie "Inks" wurden zu marktüblichen Preisen angeboten. Wer jedoch bereit war, auf die üblichen Formen der Authentifizierung zu verzichten, konnte aus den verschiedenen Formaten ein Werk auf Leinwand aussuchen und es gratis mit nach Hause nehmen.


Die Begründung: Werke unsigniert, unbetitelt und undatiert kostenlos abzugeben sei ein bewusster Bruch mit dem im westlichen Kulturkreis verankerten Prozedere und der institutionellen Verwertung von Objekten, argumentierten die Ausstellungsmacher: "Obwohl das unsignierte Werk ökonomisch wertlos und aus institutioneller Sicht minderwertig ist, besitzt es den gleichen ästhetischen Wert wie ein signiertes Werk."


Dahinter steckt nicht nur ein Gedankenspiel, sondern auch eine wichtige Frage: Kann in diesem überhitzten Zeitalter, das von den professionell inszenierten Rekordjagden nach immer neuen Höchstpreisen für die von der globalen Klasse der Superreichen geschätzte "Siegerkunst" (so der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich) geprägt ist, etwas auch dann als Kunstwerk wertgeschätzt werden, wenn kein siebenstelliges Preisschild daran hängt? Statusbewusste Trophäenjäger, die ihren emotionalen Gewinn in erster Linie aus dem Sieg über finanzstarke Mitbieter ziehen, werden an Kunstwerken, die nichts kosten, jedenfalls kaum ihre Freude haben.


Das breite Publikum und viele Kuratoren schätzen die Gratiskunst jedoch. Nicht nur in Berlin wo es in der bislang letzten Ausstellung des Kunstvereins NGBK gleich zweimal Kunst zum Mitnehmen gab.

1995 konzipierten der bekannte Kurator Hans Ulrich Obrist und der Künstler Christian Boltanski die Ausstellung "Take me (I'm Yours)" die seit 2015 durch Städte wie New York, Paris oder jüngst Mailand tourt. Besucher bekommen am Eingang eine Papiertüte, in die sie gratis Objekte von 50 Künstlern packen können. Schließlich werden bis heute Arbeiten im Sinne des 1996 verstorbenen Künstlers Félix González-Torres in den Museen gezeigt. Sie beruhen auf dem Gedanken der Flüchtigkeit von und der Teilhabe an Kunst. Typisch für ihn waren und sind Berge von Bonbons oder Stapel aus Plakaten. Beides darf man sich nehmen – es gibt immer wieder Nachschub.


Aber wie nun ist dieses Phänomen einzuordnen, das mit dem kommerziellen Galeriebetrieb und dem Vertrieb von kleineren und überhaupt verkaufbaren Objekte wenig zu tun zu haben scheint? Einerseits handelt es sich dabei um sympathische Aktionen, die das hierarchisierte Verhältnis von Großkunstbesitzern, Kunstbesitzern und Nichtkunstbesitzern irritieren. Andererseits stellt die Schenkung einen mit machtvollen Bedeutungen aufgeladenen Akt dar, der gesellschaftliche Bindungen schaffen soll. In der Terminologie Pierre Bourdieus entsteht so ein "soziales Kapital", das einen wesentlichen Bestandteil des Ansehens einer Person bildet. Auch die jüngere Gegenwartsdiagnostik spricht von der Aufmerksamkeitsökonomie", deren Funktionieren ebenfalls auf kleinere Regelverstöße gegen die handelsüblichen Mechanismen angewiesen ist.


Tatsächlich ist es auch wirtschaftlich betrachtet eine gute Idee, die eigene Aufmerksamkeit gelegentlich der Gratiskunst zu schenken. Zwar sind die gemeinsam von Raymond Pettibon und Marcel Dzama im Rahmen der von Mode-Designerin Agnès B. herausgegebenen Serie "point d'ironie" gestalteten Blätter, die einst stapelweise unter dem Ladentisch einer hippen Kunst- und Architektur-Buchhandlung in Berlin-Mitte lagerten, bei eBay derzeit noch für vergleichsweise bescheidene Beträge zu erwerben. Für Christopher Wools Edition "The Show Is Over" aus dem Jahr 1993 indes muss man bei Online-Auktionshäusern wie Paddle 8 inzwischen schon echtes Geld investieren.

Selbst Werke von angesehenen zeitgenössischen Künstlern werden manchmal kostenlos abgegeben. Welchen Wert haben sie, wenn niemand dafür zahlt?

Von Gunnar Lützow

Das gibt's geschenkt


DIE ZEIT Nr. 8/2018, 15. Februar 2018

Kostenlose Werke von Tim Beeby bei einer Ausstellung in Berlin