Der junge Mann, einer der ersten Besucher der „Unsigned Untitled Undated“ getitelten Ausstellung im Haus 1 am Berliner Waterloo Ufer, lässt sich Zeit. Er durchschreitet mehrfach den Galerie-Raum, nimmt mal hier, mal dort ein an die Wand gelehntes Bild in die Hand. Er scheint sich nicht entscheiden zu können. Endlich wird er fündig. Er packt, nach Rücksprache mit dem Künstler, ein großes Format, Tusche auf Leinwand, in zwei rote Plastiktüten und sagt Tschüss – ohne dafür Geld oder Kontaktdaten hinterlegt zu haben.


Der junge Mann findet bald Nachahmer. In den nächsten Stunden verlassen ein halbes Dutzend Besucher die Ausstellung mit einem Bild unterm Arm, ohne zu bezahlen. Das Seltsame: Niemand protestiert. Weder Tim Beeby, britischer Künstler mit Atelier in Essen, noch Helena Vayhinger, renommierte Galeristin aus Singen am Hohentwiel, die für Experimente offen ist und gern auch ein Gastspiel in Berlin einlegt. Vielmehr studieren die beiden das Kommen und Gehen im Haus 1. Das war früher Kiosk und öffentliche Toilette, bevor es zum kleinsten Schauraum der Hauptstadt umgebaut wurde. Aber nicht jeder verlässt die Galerie mit einem Bild. Einige wirken irritiert. Ein älteres Paar spricht gar von Scham, „so einfach ein Bild mitzunehmen“.


Was hier passiert? „Unsigned Untitled Undated“ (ohne Signatur, ohne Titel, ohne Datum) hat, auch wenn es so scheint, nichts mit Wohlfahrt zu tun. Helena Vayhinger, Kopf des Projekts, klärt auf: „Unsigned ist das Angebot an Besucher der Ausstellung, ein unsigniertes Werk aus Tim Beebys Serie ‚Inks' kostenlos mitzunehmen.“ Interessenten könnten die Leinwand – manchmal ziert nur ein schwarzer Klecks die weiß grundierte Fläche –, signieren und datieren lassen, um sie dann zu den marküblichen Bedingungen zu erwerben – ab 1400 Euro aufwärts. Alle signierten Bilder werden dokumentiert und in Beebys Werkverzeichnis eingetragen. Jeder Käufer erhält zudem ein Echtheitszertifikat des Künstlers.


Unsignierte Werke werden nicht erfasst. Was die vom Künstler verwendeten Materialien und das ästhetische Erscheinungsbild angeht, sind sie von den signierten Werken nicht zu unterscheiden. Dem jungen Mann, der die großformatige Arbeit unsigniert mitnahm, aber auch seinen Nachahmern, ist das egal. Ein Bild ist ein Bild.


Macht erst eine Signatur ein Werk zu Kunst? Die Singener Galerie Vayhinger

und der Künstler Tim Beeby haben in Berlin ein Experiment gewagt

Berlin – Ein Bild ist ein Bild

Siegmund Kopitzki

Berlin: Ein Bild ist ein Bild | Südkurier Online 12.01.18

… Ist das so?


Die Signatur ist die Obsession des modernen, milliardenschweren Kunstbetriebs. Das ist unstrittig. Werke unsigniert, unbetitelt und undatiert zu lassen und sie kostenlos verfügbar zu machen, stellt das Prozedere infrage, ein Kunstwerk zu signieren, bevor es in den Kreislauf der kommerziellen und institutionellen Verwertung gerät. Obwohl das unsignierte Werk ökonomisch wertlos und aus institutioneller Sicht minderwertig ist, besitzt es den gleichen ästhetischen Wert wie ein signiertes. Ein Blick in die Kunstgeschichte zeigt jedoch, dass es komplizierter ist.


Signaturen, der vom Künstler auf dem Werk angebrachte Name als Urhebernachweis, sind seit der Antike bekannt. Das Mittelalter kennt Künstlernamen fast nur aus der Spätzeit. Die Verbreitung von Signaturen seit der Renaissance hing mit der sich wandelnden Vorstellung von der Rolle des Künstlers und seiner Bedeutung für den Wert des Werks zusammen. Es gab aber Maler wie den „Meister von Meßkirch“, die auf Ihren Werken keine Spuren hinterlassen haben. An der Kunst der Neuzeit ist der Name, der für Individualität und Authentizität steht, oft durch den Zusatz „f.“ oder „fec“ (Lateinisch: fecit – hat es angefertigt) ergänzt worden. So wurde ein Werk für vollendet erklärt.


Über die Jahrhunderte lässt sich ein beachtlicher Facettenreichtum der Signatur in fast allen künstlerischen Medien beobachten – in Architektur und Plastik, Malerei und Grafik, auf Medaillen und in den Kleinkünsten. Als Signatur dienten das Stifterbildnis ebenso wie das Selbstbildnis des Künstlers, mit vollem Namen wurden Kirchenfassaden, Bilderrahmen oder visitenkartenähnliche „cartellini“ im Bild markiert; abgekürzt oder verschlüsselt findet sich der Name als Monogramm, Wappen oder Hauszeichen. Bildhaft spielte Albrecht Dürer (Tür) auf seinen Namen an.


Schon lange kommt der Signatur des Künstlers eine geradezu magische Bedeutung zu. Eine nicht signierte Arbeit ließ sich schon in der Renaissance schlecht verkaufen – das Fehlen des wertbildenden Signums minderte den Reiz. 1675 notierte die französische Adlige Marquise de Sévigné, dass Gemälde wie Goldbarren seien und jederzeit für das Doppelte ihres Einkaufspreises verkauft werden könnten. Daher wurden Werke etwa von Dürer nicht nur kopiert, was rechtlich nicht zu beanstanden ist, sondern, und da hört der Spaß auch heute auf, mit einer gefälschten Signatur versehen als echt ausgegeben.

Leicht zu fälschen


Für Kunsthistoriker ist der handschriftliche Namenszug, der sich leicht fälschen lässt, nur ein Hilfskriterium bei Zuschreibungs- und Datierungsfragen. Zwar ist die Signatur von Bedeutung für die Urheberschaft einer Arbeit, argumentieren sie, nicht jedoch für deren Eigenschaft als Original. In dem Zusammenhang wird auf die

Gefälligkeitssignaturen hingewiesen, die die Pop-Art-Legende Andy Warhol und der deutsche Aktionskünstler Joseph Beuys auf alle möglichen Objekte kritzelten, wenn sie darum gebeten wurden.


Hier kommt Marcel Duchamp ins Spiel. Der Konzeptkünstler sprengte den Mythos der Originalität, der im Künstler den genialen Schöpfer sehen möchte. Duchamps sogenannte Ready-mades stellten den gängigen Kunstbegriff infrage. So erwarb er 1914 in einem Pariser Warenhaus einen Flaschentrockner aus Eisen und signierte ihn; sein Objekt „Fahrrad-Rad“ (1913) ist eine Kombination aus Rad, Fahrrad-Vordergabel und Holzhocker; selbst ein Urinal („Fontain“, 1917) erklärte er zum Kunstwerk. Duchamp vertrat die Auffassung, dass bereits die Auswahl eines Gegenstandes ein künstlerisches Werk sei – was Beuys mit der Aussage toppte, dass jeder Mensch ein Künstler sei.


Aber auch die folgenden Generationen von Künstlern haben die tradierte Vorstellung vom persönlichen Schöpfertum durchschaut, kritisiert und sogar hintertrieben. Sie stellten damit auch die rechtliche Auffassung infrage, dass erst die Signatur eine nach außen erkennbare Beziehung des Künstlers zum Werk herstellt. Warhol schenkte Anfang der 1960er-Jahre seiner Kollegin Elaine Sturtevant eines der Siebe, die er für seine „Flowers“-Drucke verwendet hatte. Sturtevant arbeitete damit weiter und signierte die Blätter mit ihrem Namen. Bekannt ist auch, dass Warhol seine Mutter Bilder unterzeichnen ließ – was am Original nichts ändert. Beuys und andere Künstler verwendeten auch Stempel, Pseudonyme oder Fingerabdrucke als Signatur. Das ist eher eine Persiflage denn eine ernstzunehmende Beglaubigung.


Nicht immer waren solche Spielchen lustig. Zu einem Rechtsstreit kam es Ende der 1990er-Jahre um ein Gemälde von Jörg Immendorff. Gegen den Künstler wurden Betrugsvorwürfe laut, weil er eine von seinem Assistenten gemalte Kopie eines älteren Bildes als eigene Arbeit verkauft hatte. Aber: Schon die „Alten Meister“, ob Dürer, Lucas Cranach oder Peter Paul Rubens, betrieben Werkstätten, in denen ihre Mitarbeiter Bilder fertigten, die die Chefs signierten. Der US-Künstler Jeff Koons beschäftigt in seinem Atelier bis zu 120 Menschen, ähnlich der Engländer Damien Hirst. Die Formel damals wie heute: Wenn ein Werk unter der künstlerischen Verantwortung des „Meisters“ entsteht, dann gilt es als Original.


Vier Tage dauerte die Ausstellung „Unsigned Untitled Undated“, dann

waren fast alle Bilder weg. Am Ende hatten mehr Besucher als erwartet ihr Portemonnaie für signierte Leinwände, allesamt Unikate, geöffnet. So kamen Beeby und Vayhinger auch finanziell gut davon. Punktsieg für den Kunstbetrieb.